Kinder brauchen Natur. Mehr Matsch!

Dez 06 2016

[hier ein älterer Artikel von mir, Andreas Schönefeld, Januar 29th, 2012]

Dr. Andreas Weber hat einen aufrüttelnden, wundervollen Essay im GEO Magazin (August 2010) geschrieben. Bisher wurde dieser über tausendmal auf facebook empfohlen. Er wurde sehr oft kommentiert. Der Autor, Biologe und Naturphilosoph erhielt dafür den Deutschen Reporterpreis 2010 in der Kategorie Essay. 2011 erschien sein Buch „Mehr Matsch!“.

Foto Andreas Schönefeld

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Andreas Weber schreibt wunderbare Dinge und ich liebe ihn dafür.

Dass Kinder heute kaum noch im Freien herumstrolchen, ist für ihn eine zivilisatorische Katastrophe. “Dass Kinder nicht mehr in der Natur auftauchen, ist die eigentliche ökologische Katastrophe“ (Mehr Matsch!). Er beschreibt das Recht der Kinder auf Wildnis, Freiheit und Natur.

Im Folgenden möchte ich Andreas Weber selbst sprechen lassen. Seine Thesen und Vorschläge sind existentiell wichtig für Eltern, Erzieher, Lehrer, Frühförderung, Kindergarten, Schule, Jugendarbeit.

Foto Andreas Schönefeld

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(Die nächsten Zitate sind aus dem GEO-Magazin)

Der Erkenntnisstand der Gehirnforschung: Die Gegenwart der Natur, das Spiel in ihr ist relevant für die Befriedigung der emotionalen, aber auch der kognitiven Bedürfnisse heranwachsender Menschen. Wird ihnen die Freiheit verwehrt, unkontrolliert von Erwachsenen in einer von selbst gewordenen – nicht einer künstlich gefertigten – Welt Erfahrungen zu machen, können Kinder zentrale Fertigkeiten nur sehr schwer entfalten. Ohne die Nähe zu Pflanzen und Tieren verkümmert ihre emotionale Bindungsfähigkeit, schwinden Empathie, Fantasie, Kreativität und Lebensfreude.

Foto Andreas Schönefeld

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Neue Situationen zu bewältigen, gewährt Autonomie – und somit die Reifung zur eigenständigen Persönlichkeit. Viele Eltern verplanen stattdessen mit besten Vorsätzen die Zeit ihrer Kinder, finanzieren Cellostunden, einen Judokurs, Fechten auf Englisch, Nachhilfe von Muttersprachlern. Diese Enhancer sollen dem Nachwuchs einen Platz im ersten Rang der Welt-Wettbewerbsgesellschaft garantieren. Zu viel Kontakt mit der Wirklichkeit, der auch Scheitern und Schmerz beinhalten kann, würde diese durchorganisierte Matrix zusammenbrechen lassen. Also geht man Erfahrungen mit Wildheit und Wildnis besser aus dem Weg, versperrt klassische kindliche Erfahrungsräume.

Foto Andreas Schönefeld

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Es scheint, dass wir Erwachsenen vor lauter gutem Willen das Ziel unserer Erziehung aus den Augen verlieren. Brutal formuliert, quälen wir unsere Kinder, eingesperrt auf den Rücksitzen rundum mit Airbags gepolsterter SUV, schon vom Kindergarten an durch immer strenger getaktete Leistungsinstitutionen, um sie fit zu machen für das Leben. Dabei nehmen wir ihnen gerade die Möglichkeit zu erfahren, was das ist: Leben. Wir stehlen ihnen die Lebendigkeit. Viele Kognitionsforscher halten das für eine zentrale Ursache in der Misere der Kinder und Jugendlichen.

Meine These: Mit derselben Schnelligkeit, mit der die Wildnis aus der Psyche unserer Kinder schwindet, steigt die Häufigkeit ihrer seelischen Krankheiten.

Unsere Kognition ist von „Biophilie“, der Liebe zum Lebendigen, bestimmt. Der Mensch hat sich in Jahrmillionen als Teil der Ökosphäre entwickelt und durch sie Denken und Fühlen gelernt.

Foto Andreas Schönefeld

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Dass Kinder sich der Natur zunehmend entfremden, hat somit das Potenzial einer zivilisatorischen Katastrophe. Denn wer soll die Natur, deren Sauerstoff uns atmen lässt, deren Kohlenhydrate und Proteine uns nähren, künftig bewahren, wenn Kinder nicht mehr wissen, dass das Netz des Lebens Teil ihrer selbst ist?

So wie Kinder ihr Modell von Menschlichkeit von jenen übernehmen, die sie lieben, so übernehmen sie von anderen Lebewesen das Gefühl aktiver Lebendigkeit. Andere Wesen, ja selbst Flüsse, Steine und Wolken lehren die Kinder eine Form der Selbsterkenntnis, die sie in einer allein menschengemachten Welt nicht erwerben könnten.

Foto: Andreas Schönefeld

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Schulen gleichen Fabrikanlagen, Kasernen und Abfertigungshallen. Pausenhöfe sind keine Wildnisareale, sondern effizient gestutzte Rasenflächen oder trostlos asphaltierte Einöden. Ihr Design folgt nach wie vor der Devise, dass sich Wissen aus der Welt abspalten und in neutraler Umgebung vervielfältigen lässt. Die Praxis hat das längst als Illusion entlarvt.

Normal ist eine der Sucht nach Beherrschbarkeit geschuldete Ödnis. Beispiel: Als ich eine Betreuerin in Emmas Schulhort fragte, warum die Kleinen immer auf dem mit Kunstgras belegten Sportplatz spielten und nicht im wunderbar verwunschenen Wald dahinter, antwortete sie: „Dort sehen wir nicht, wenn sie sich verletzen“. Wie viele Verletzungen aber richten wir an, indem wir annehmen, die Kinder zu schützen – ihnen jedoch verwehren, was ihr natürlicher Drang ist?

Foto Andreas Schönefeld

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Kinder nehmen die Welt im Spiel wahr. Spielen ist nicht irgendein Zeitvertreib, sondern schöpferisches Einverleiben der Wirklichkeit. Es ist eine Form des Denkens, aber nicht mittels Informationen, sondern in Handlungen, in Symbolen, in Körpern, in Glück. Was Kinder lernen, wenn sie den Schlick durch ihre Finger quellen lassen, ist nicht eine Vorform des Faktenwissens, das ihnen die Schule einmal abverlangen wird. Im Gegenteil. Kinder sind keine „kleinen Wissenschaftler“, sondern Genies der Lust, am Leben zu sein.

Foto: Andreas Schönefeld

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„Unser abstraktes Denken füllt nur eine winzige Bandbreite der uns zur Verfügung stehenden Wahrnehmungskanäle“, meint der US-amerikanische Wildnis-Lehrer Jon Young. Er begründete in den 1980er Jahren das „Coyote Mentoring“, eine neue Form der Umweltpädagogik, die mit ganz anderen Methoden arbeitet als die gewohnte. Young will nicht länger ökologisches Verstehen vermitteln, sondern die Wahrnehmung schärfen. Er ist überzeugt, dass das, was er „Vorstellungskraft der Sinne“ nennt, eine ebenso fundamentale Kulturtechnik ist wie Lesen, Schreiben und Arithmetik.

Es gibt also Hoffnung für ein glückliches „Verwildern“ unserer Kinder. Ein perfektes Biotop ist dafür nicht vonnöten. Ein Stück Brachland um die Ecke reicht. Ein Schulhof etwa, der nicht TÜV-geprüft ist, sondern sich selbst und den kreativen Ideen der Kinder überlassen wird. Was Kinder benötigen, sind sinnliche Erfahrungen in Freiheit. Nicht mehr, nicht weniger. Und so schwer wir es akzeptieren können: Zu dieser Freiheit gehört auch ein bisschen Risiko, ein bisschen echte Gefahr.

Foto: Andreas Schönefeld

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(die nächsten Zitate entnehme ich dem Buch Mehr Matsch!)

Entwicklungspsychologen führen die Kreativität und Imaginationsfähigkeit, die ein Kind im späteren Leben entwickelt, auch auf das Maß an Wildnis zurück, in das ein Kind eintauchen durfte. Natur repräsentiert somit – spielerisch, kreativ, symbolisch, phantasievoll – den belebten Kosmos mit seinen Chancen und Zwängen. In ihr vereinen sich Gegensätze zum gelungenen Leben. Kreativität, Phantasie, Disziplin, Kooperation, Durchhaltevermögen, Wunder, Gemeinschaft, Teilhabe, Dominanz – all diese widersprüchlichen Eigenschaften können nur gemeinsam das Gewebe der Lebendigkeit knüpfen. So bereitet die Natur auf symbolische und intuitiv fassbare Weise den Raum unserer eigenen Seele vor uns aus. Natur ist der zentrale Baustein einer gesunden kognitiven Entwicklung.

Foto: Andreas Schönefeld

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Was in der ständig beschleunigten Gegenwart verschwindet, ist somit nicht nur Natur, sondern der Raum, in dem Kinder ganz alleine zu Menschen werden. Was wir brauchen, ist mehr Vertrauen in diese Fähigkeit – und das Zutrauen, dass sie sich von allein einstellt. Wir sollten mehr Glauben an die Fähigkeit des Kindes zeigen, aus sich selbst heraus zu wachsen und richtig zu erfühlen, was es dafür benötigt. Das trostlose Leben der Kinder, eingesperrt hinter Bildschirmen, zu Tode geschützt hinter Airbags und Schulhortmauern, sollte uns aufrütteln. Oder sind wir schon so abgestumpft, um den Skandal zu bemerken, dass eine ganze Kultur sich verschworen hat, die Prinzipien der Lebendigkeit abzuschaffen?

Die Natur, welcher die Kinder bedürfen, ist somit nicht eine Ressource unter anderen. Sie gewährt vielmehr die Öffnung zur Freiheit und zur Menschlichkeit. Damit ist die Gegenwart von Natur die Voraussetzung aller Ressourcen. Sie eröffnet tiefe Humanität.

Foto: Andreas Schönefeld

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Kinder benötigen Natur als die Pforte zur Innenseite der Welt. Sie ist das Tor, das sie mit ihrer eigenen Herkunft verbindet, und das zugleich alle Erfahrungsmöglichkeiten ihrer eigenen unbekannten Lebendigkeit bereithält. Kinder erfahren am anderen Wesen und am lebenden Netz der Natur zentrale Kategorien von Lebendigkeit. Sie erfassen sie von der „Innenseite“ der Lebendigkeit. Sie erfahren, was es heißt, und was es für sie heißen könnte, lebendig zu sein. Aber ihnen werden diese Kategorien nicht durch abstrakte Beobachtungen zuteil (und schon gar nicht durch steriles Pauken), sondern indem sie ihnen zugehören. Kinder erfahren sie auf die gleiche Weise, wie sie erfahren, was es heißt, geliebt zu werden und zu lieben, nämlich indem sie daran teilnehmen.

Foto: Andreas Schönefeld

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Andreas Weber hat auch ein Kapitel mit 30 Vorschlägen für Eltern. Die Vorschläge sind betitelt mit: – Die Wildnis nach Hause einladen – Die Wildnis nebenan suchen – Sich der Wildnis ganz hingeben – Gehen lernen – Den Weg zum Kunstwerk machen – Im Freien speisen – Gärtner werden – Wasser lockt Wesen an – Wasser lockt Kinder an – Welpengeschwister zulassen – Wilde Tiere in die Nähe locken – Wilde Tiere als Bildernahrung – Forscherwerkzeug weckt Lust – In die Tiefe schauen – Andere Wesen respektieren – Kleine Abenteuer aufflackern lassen – Bäume sind zum Klettern da – Ein Raum für sich allein – Jedes Element auskosten – Kein Wesen ist zu gering – Sich infizieren lassen – Kinder können draußen spielen – Das Glück liegt auf der Straße – Gemeinsamkeit in der Natur suchen – Oster und Weihnachten: Die Natur als Fest – Die anderen Wesen besuchen – Patenschaften schenken – Eine raue Zunge fühlen – Eigenständigkeit geben – Computer eingrenzen

Hier der Anfang des ersten Vorschlages: Lassen Sie Wildnis in Ihrer Lebensumgebung zu. Erlauben Sie die Unordnung, die damit einhergeht. Denn Wildnis zulassen heißt: Freiheit zulassen. Wenn Sie einen Garten haben: Nicht alle Flecken müssen gemäht und gestutzt werden. Gestatten Sie einer Wiese zu wuchern, auch wenn es zuerst schwerfällt. Stellen Sie sich vor, es sie eine bittere Medizin, die heilt. Ermuntern Sie ihr Kind, sich in einer Ecke einzurichten und dort seine Märchenlandschaft aufzubauen, in einer Hecke, unter einer Tanne, mit allen Accessoires, Fundstücken, Matschhaufen – auch wenn es manchmal etwas unordentlich aussieht. Werfen Sie ein paar nützliche Dinge gleichsam beiläufig in den Garten hinaus – Seile, Bretter, geschnittene Äste. Legen Sie einfaches Werkzeug bereit. Gestatten Sie Ihrem Kind, den Garten als Erlebnisraum zu nutzen – das ist sowieso dessen wichtigste Funktion.

Foto Andreas Schönefeld

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Es folgen 20 weitere Ideen für Lehrer und Erzieher mit den Titeln: Erleben statt Pauken – Ästhetik statt Prüfungsstress – Wir alle sind Morphologen – Nicht Mechanik, sondern Seele – Literatur und Natur – Naturkunde – Winzige Welten – Was lebt hier eigentlich? – Gärtner, Bauen, Handeln – Schule der Wildnis – Bewegung statt Museum – Unsere innere Lebensuhr – Die erweiterte Schule – Natur als Schwerpunktprogramm – Vom Pausenhof zum Bauernhof – Von der Schularbeit zur Landarbeit – Die Schule als Lebens-Raum – Buden und Forts: Den Schulpausen neuen Sinn geben – Gesetzliche Spielräume nutzen – Abenteuer mit Umsicht

Hier der Vorschlag „Buden und Forts: Den Schulpausen neuen Sinn geben

Lassen Sie Ihre Kinder in den Pausen Forts bauen. Deklarieren Sie ein möglichst wildes Areal des Hofes als Siedlungsgebiet, bieten Sie Baumaterial und Werkzeug an (alte Bretter, Seile, Äste, Zweige, Draht, Hammer Nägel, Kunststoffplane, Erde, Lehm). Sie brauchen noch nicht einmal eine Anweisung geben. Es reicht ein Schild wie: „Macht damit, was ihr wollt“. Vielleicht als Überraschung nach dem Schuljahreswechsel? Jahrelange Experimente damit in den USA haben gezeigt, dass sich in kürzester Zeit ein dynamischer Selbstorganisationsprozess entwickelt: Gruppen von Kindern beginnen mit Materialien, Forts zu errichten. Es entsteht eine komplexe, phantasievolle Gruppenkultur, die bald den gesamten Schulalltag durchtränkt. … Was Kinder dort – neben der immensen Kreativität des Konstruierens – erfahren, sind gleichermaßen Freiheit und Autonomie, soziale Interaktion und regelgerechtes Verhalten.

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Andreas Weber kann man etwas kennenlernen in einem Gespräch mit Bettina Jarasch und Jascha Rohr über Neue Formen der politischen Partizipation, durchgeführt und aufgezeichnet von der Zeitschrift “Oya”.

Siehe auch Artikel über den Vortrag von Dr. Eckard Schiffer „Oma: der Junge muss raus, drei Stunden!“ Es ist das gleiche Plädoyer mit den gleichen neurobiologischen Erkenntnissen.

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