Uns fehlt der Mut – unsere Kinder sind für den Ausbruch bereit

Apr 13 2019

In diesem Sinne fordert der Kinderarzt Dr, Herbert Renz-Polster: Kindheit wagen! am Schluss seines neusten Buches „Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können“.

Ich zitiere hier aus seinem Buch:

[…] wer will, dass es unter Menschen menschlich zugeht, muss den Menschen eine sichernde, ermutigende Kindheit zugestehen.

Für mich ist – das ist die Quintessenz meines Buches – genau das die Antwort auf den Rechtspopulismus: Kindheit wagen! Denn Kinder, die ihre Kindheit innerlich unverletzt, mit Selbstvertrauen, wachen Augen, Einfühlungsvermögen und Mut unter dem Herzen verlassen, sind widerstandsfähig – gerade gegenüber den Verlockungen des Rechtspopulismus. Allen Kindern ist eine solche Kindheit zu wünschen. (S. 263)

Foto: Andreas Schönefeld

Wenn etwas gegen Vorurteile und Ausgrenzung hilft, dann ist es die gelungene menschliche Entwicklung. Schutz vor Hass bildet sich dort, wo Kinder lernen, anderen Menschen angstfrei, empathisch und zugewandt zu begegnen. Schutz vor Hörigkeit bildet sich dort, wo Kinder mündig werden – indem sie mitsprechen dürfen, indem sie selbstbewusst und sozial kompetent werden. (S. 236)

Kinder, Ihr seid willkommen und ihr seid alle wichtig – müsste das nicht über jeder Einrichtung in großen Lettern stehen? Und müssten die Kinder dort nicht tagtäglich das erfahren: Ihr habt eine Stimme, nutzt sie! Hier seid ihr nicht ausgeliefert, hier werdet ihr nicht beschämt – wäre nicht das ein Rezept gegen die Hörigkeit und die Ängstlichkeit? (S. 264)

Wir funktionieren die Kitas zu Schulen um, weil wir glauben,

Kinder, die früh Mathematik pauken, seien schneller am Ziel. An welchem Ziel, das fragen wir nicht. Für ihre kindliche Art, in das Leben hineinzuwachsen, haben wir kaum mehr Zeit, kaum mehr Kraft, kaum mehr Freiheit.(S. 266)

Kindheit wagen! für mich gleichzeitig eine Aufforderung zu mehr Ehrlichkeit und Selbstkritik: Nein, niemand muss sich dafür entschuldigen, dass er seine Kinder in die Krippen, Kitas und Schulen schickt, die nun einmal im Angebot sind – wir wären ohne diese Angebote ja komplett aufgeschmissen. Nur: Dann müssen wir als Gesellschaft alles daransetzen, damit es dort so gut es geht um die Bedürfnisse der Kinder geht und nicht um die Hoffnungen und Ausflüchte der Erwachsenen.

Das gilt auch für die Kindergärten: Sie schießen in immer moderneren, immer größeren Einheiten am Stadtrand aus den Boden. Oft genug sind das in Beton gegossene Zeugnisse, dass wir auf die Mitsprache der Kinder im Grunde pfeifen. Drinnen ist die Ressourcenbasis zum Zerreißen gespannt. Nirgendwo als im Bereich der Kinderbetreuung müssen so viele Menschen ihren Beruf wegen Überbelastung aufgeben. Oder schlicht deshalb, weil sie finanziell nicht über die Runden kommen. […] wenn bei der Kinderbetreuung das Personal fehlt, läuft alles trotzdem weiter. Und das im Angesicht einer Vielzahl von Herausforderungen, deren pädagogische Reichweite uns erst allmählich klar wird – von der Inklusion behinderter Kinder über die Integration von Flüchtlingskindern bis zur Begleitung verhaltensauffälliger Kinder. […]

Wir als Gesellschaft haben einen materiellen Lebensstandard erreicht, von der die Generation vor uns nicht einmal träumen könnte. Wir leben in einem Überfluss, der bis zu den Sternen reicht. Und trotzdem schaffen wir es nicht, die Fürsorge für diejenigen zu leisten, die nun einmal schwach und abhängig sind? Warum ist es so schwierig, das ernst zu nehmen, was wir uns selbst ins Grundgesetz geschrieben haben – Eigentum verpflichtet? […]

Eindeutig, an Gründen für eine Gefangenenrevolte mangelt es nicht. Uns fehlt der Mut.

Können wir von unseren Kindern lernen, mutiger zu sein? das glaube ich tatsächlich. Denn unsere Kinder sind für den Ausbruch bereit.

Foto: Andreas Schönefeld

Sie sind bereit für die Gestaltung einer neuen, eigenwilligen und neusinnigen Zukunft. Denn genau das ist ja der magische Kern ihrer Entwicklung: dass sie sich darauf vorbereiten, in Neuland vorzustoßen. Dorthin, wo noch nie jemand gewesen ist – nicht ihre Lehrer, nicht wir, ihre Eltern. (S. 268f)

Foto: Andreas Schönefeld

Herbert Renz-Polster beschreibt in seinem aktuellen, erschreckenden Buch „Landschaften der kindlichen Not“, denn je härter die Kindheit, desto härter die Politik. Die Ergebnisse der Autoritarismusforschung zeigt er ausführlich und wendet sie historisch und aktuell auf die heutigen politischen Landschaften an, auf Deutschland, West und Ost, auf die USA, wo er mit seiner Familie sieben Jahre lang lebte, auf Länder in Europa, Osteuropa, Asien und Afrika. Autoritäre Haltungen sind dominant und im Wandel, von der Nazidiktatur bis zur Globalisierung. Mit diesem Buch und seinen Thesen sollten wir uns auseinandersetzen.

Renz-Polster verweist auf die Forschungsergebnisse des Politikwissenschaftlers Frederick Holt: „Je ungleicher Einkommen und Chancen in einem Land verteilt sind – desto autoritärer denken und empfinden seine Bürger. Hunderte von Forschungsarbeiten aus allen möglichen Ländern zeigen […], dass steigende Ungleichheit in einer Gesellschaft mit so ziemlich jedem denkbaren ungünstigen Ergebnis verbunden ist. Sie korreliert mit dem Maß an Gewalt in einer Gesellschaft. Mit der Gesundheit ihrer Bürger. Den insgesamt in dem Land erzielten Bildungserfolgen. Der Zufriedenheit seiner Einwohner. Ihrer Lebenserwartung. Mit der Zahl der Gefängnisinsassen. Und dem Drogenkonsum. Und dem Maß an autoritären Einstellungen in der Gesellschaft offensichtlich auch.

Welchen Regeln folgen diese Horror-Korrelationen? Der Zusammenhang erklärt sich über den Grundstoff, der Gesellschaften in ihrer Tiefe zusammenhält: dem sozialen Kapital ihrer Bürger. Darunter versteht die Sozialpsychologie das Maß an Vertrauen, das Bürger in ihre Mitmenschen haben sowie ihr Gefühl, etwas bewirken zu können. Die Ungleichheitsformel lautet dabei so: Je ungleicher eine Gesellschaft, desto geringer das soziale Kapital ihrer Bürger. Und desto stärker und tief greifender der Lebensstress für die große Mehrheit. Denn ungleich verteilte Chancen in einer Gesellschaft bedeuten ja, dass viele Bürger bei ihrer Suche nach Anerkennung, Autonomie und Teilhabe tagtäglich beschnitten werden. Dass sie tagtäglich die Erfahrung machen, nichts ausrichten zu können. Aber auch die Gesellschaft leidet – ihr fehlen schlichtweg die motivierten, fähigen und gut gestimmten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eine ‚gute Gemeinschaft‘ schaffen und die Lebensbedingungen insgesamt zum Besseren wenden könnten.

Und wie entsteht daraus nun dieser Dreiklang, […] Diese immer gleiche Kombination von Ungleichheit, Autoritarismus und belasteten Kindheiten? Auch das erklärt sich letzten Endes über das […] verfügbare beziehungsweise mangelnde soziale Kapital. Je geringer es ist, desto eher sind auch die alltäglichen Beziehungen von Stress statt von Vertrauen geprägt. In dem ’strengen‘, auf Kampf um die knappen Chancen ausgerichteten Gesellschaftsklima leidet also auch das soziale Kapital der Kinder – ihr ‚Entwicklungskapital‘. (S. 244f)

Siehe auch meinen folgenden Blogbeitrag zum Buch:

http://andreas-schoenefeld.de/in-der-kindheit-wird-verhandelt-ob-wir-widerstehen-koennen-herbert-renz-polster-erziehung-praegt-gesinnung/

 

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