Gleichwürdigkeit und Leitwolf sein

Okt 13 2018

(Jesper Juul: Leitwolfsein. Elterliche Führung der Zukunft und ihr geschichtliche Hintergrund. Edition + plus, 03 familylab Schriftenreihe, München 2014)

Hier eine Passage aus den Seiten 27-30:

Der Prozess gegenseitigen Lernens geht ein Leben lang weiter, und er wird am meisten Erfolg haben, wenn die Beziehung als gleichwürdig gesehen wird. Beziehungen zwischen Eltern und Kinder können niemals gleichberechtigt sein, dafür ist der Machtunterschied zu groß. Dieser Unterschied ist genau der Grund, warum ich den Begriff Gleichwürdigkeit eingeführt habe – er beschreibt das Ethos der Führung durch Erwachsene.

Gleichwürdigkeit, Foto: Andreas Schönefeld

Beispiel

Max ist drei Jahre alt.

Sein Vater:  Auf geht’s Max! Jetzt ist es Zeit, dass du Zähne putzt.

Max:             Aber, Papa, warum? Ich will nicht Zähne putzen!

Vater:           Weißt du, warum du nicht willst?

Max:              Nein … ich will einfach nicht.

Vater:            Schade, ich würde es wirklich gerne wissen.

Max:              Ich weiß es aber nicht.

Vater:            Okay, dann denk doch mal darüber nach und sag mir Bescheid, wenn du es weißt. Und lass uns in der Zwischenzeit das Zähneputzen erledigen.

Max:              Aber ich hab gesagt, dass ich nicht will!

Vater:            Ja, das habe ich gehört. Aber solange du noch ein Kind bist, bin ich verantwortlich für deine Gesundheit. Also los, bringen wir es hinter uns.

Max:              Okay, aber pass auf, dass du mir nicht wehtust.

 

Ginge man nach dem alten Paradigma, würde man diesen Dialog als pure Zeitverschwendung sehen. Der Vater weiß, dass er seinem Sohn auf jeden Fall die Zähne putzen wird, warum also so viel Zeit und Energie verschwenden?

Der Grund ist folgender: Wenn die einzige Option für ein Kind ist, die Hacken zusammenzuknallen und „Jawohl!“ zu brüllen, dann verliert es dabei seine Würde (das Gleiche gilt übrigens für Erwachsene). Die meisten Kinder werden auf eine solche Situation reagieren, indem sie gegen ihren Vater kämpfen – indem sie wegrennen, den Mund zusammenpressen oder ihr Gesicht in den Händen schützen. Und schon ist man mitten in einem Machtkampf und das nur, weil das Kind sich sprachlich noch nicht gut genug ausdrücken kann, um zu sagen: „Hör mal zu, Papa! Vielleicht lasse ich zu, dass du meine Zähne putzt, aber ich werde auf keinen Fall zulassen, dass du mich meiner persönlichen Würde beraubst – auf keinen Fall!“

Immer, wenn Kinder versuchen, ihre persönliche Integrität zu schützen, haben sie dafür einen guten Grund – nämlich die Art und Weise, wie sie die Dinge erleben. Das ist bei Kindern genauso wie bei Erwachsenen. Wenn sie also in einen Machtkampf mit einem Kind geraten., liegt das meistens daran, dass Sie die die Macht wollen und das Kind versucht, seine persönliche Integrität – zu der auch seine Würde gehört – zu schützen. Kinder haben kein Interesse daran, Macht über Ihre Eltern zu haben. Aber sie messen ihrer Autonomie und ihren persönlichen Grenzen hohen Wert bei, und sie werden solange für diese kämpfen, bis sie schließlich gebrochen und erniedrigt sind. Noch vor einem Jahrhundert war dieser Schaden oft dauerhaft, und er verkrüppelte Kinder für den Rest ihres Lebens. Heutzutage nutzen sie eher die Gelegenheit, es als Teenager noch einmal zu versuchen.

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