Beteiligung und Bürgermacht in der Kommune

Nov 17 2013

Demokratie heißt,

sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen“ (Max Frisch)

 

Aber wie gelingt dies? Was könnte jede/r machen? Wie soll man sich engagieren, wenn man in Armut lebt, keinen Arbeitsplatz hat, Hartz-IV-Betroffener ist, wenn viele am gesellschaftlichen Leben kaum teilnehmen können, weil sie nicht genügend Geld haben?

 

Meist stöhnen die politischen Parteien und Fraktionen in den städtischen Parlamenten über die viele, viele Arbeit und über die wenigen, wenigen Mitglieder. Wie gelingt es, dass Demokratie, Politik und das Einmischen in die eigenen Angelegenheiten wieder besser zu einander kommen? Wie gelingt es, gemeinsam öffentlich zu debattieren und zu handeln? Streit, Kompromiss, Aussöhnung und Solidarität im politischen Engagement für die eigene Stadt oder Gemeinde würden doch stark und glücklich machen.

Wie öffnen sich die starren Formen des repräsentativen Politiksystems und des Verwaltungshandelns gegenüber den Mutbürgern, gegenüber zeitlich befristeter Mobilisierung zu einzelnen Themen und Projekten?

Wie kann die außerparlamentarische Vielfalt, Professionalität, der Sachverstand und die Expertise genutzt werden, um Gesellschaft zu gestalten?

Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager, Foto: Andreas Schönefeld

Bürgerinitiative gegen CO2-Endlager, Foto: Andreas Schönefeld

Das Wissen und Engagement der Vielen macht für den Politikwissenschaftler Roland Roth unsere Gesellschaft zukunftsfähig. In seinem im Herbst 2011 erschienen Buch „Bürgermacht. Eine Streitschrift für mehr Partizipation“ analysiert er die Krisen der Demokratie.

Beteiligungsansprüche, soziale Bewegungen und Proteste wachsen weltweit und fordern zur Vitalisierung der Demokratie heraus. Roth plädiert für die Nutzung dieser historischen Chance. Er zeigt an vielen Beispielen auf, dass es auch anders geht und dass die repräsentative Demokratie sich öffnen sollte. Nachhaltige Formen der demokratischen Beteiligung gilt es auszuprobieren und zu lernen. Bürger müssen selbstbewusst neue Wege der Mitgestaltung einfordern, die Politik muss lernen, die Kompetenzen der Bürger anzuerkennen und Macht zu teilen.

 

Bundespräsident Horst Köhler spricht am 11.5.2010 auf einer Tagung zum Bürgerengagement von der Devise Die Demokratie – das sind wir!

Unsere Demokratie wird diesen Herausforderungen dann gut begegnen können, wenn sie ihre Stärken ausspielt, wenn die Selbstwirksamkeit des Einzelnen wieder gestärkt wird, wenn Teilhabe und Mitgestaltung erwartet und ermöglicht werden. Wenn also Politik nicht vorgaukelt, alle überhaupt lösbaren Probleme allein lösen zu können, sondern Verantwortung mit den Institutionen der Bürgergesellschaft teilt, ohne sich damit aus der Verantwortung zu stehlen. Und wenn sich jeder Einzelne im Rahmen seiner Möglichkeiten engagiert und damit Verantwortung übernimmt, statt sie immer nur vom Staat oder von „der Politik“ einzufordern.

Bundespräsident Horst Köhler, Foto: Andreas Schönefeld

Bundespräsident Horst Köhler, Foto: Andreas Schönefeld

Roth wie Köhler, dessen Rede auch als ein kleines Vermächtnis gewertet werden kann, betonen die Notwendigkeit einer solidarischen Gesellschaft. Daseinsvorsorge und Bildung müssen diese ermöglichen. „Ohne garantierte soziale Bürgerrechte hat politische Beteiligung ‚für alle‘ keine Chance. Hier setzen die vielfältigen Vorschläge für ein garantiertes Grundeinkommen an“ (Roth, S.32).

 

In einigen Kommunen will man Beteiligungskulturen entwickeln. Kinder und Jugendliche sollen mitwirken dürfen.

Aber aufgepasst, Roland Roth, der Kinder- und Jugendbeteiligung als einen Forschungsschwerpunkt hat, warnt. Ohne strukturelle Reformen wird Beteiligung zur „Treppe ins Nichts“. Es darf nicht passieren, dass Kinder und Jugendliche Vorschläge zur Gestaltung von Jugendräumen machen dürfen, dann aber kein Geld vorhanden ist (S. 147).

 

Neben unterfinanzierten Kommunen kann auch eine konservative Verwaltungstradition bremsen. Eine moderne Verwaltung muss die gewählten Stadt- oder Gemeindevertretungen als gesetzgebender Souverän anerkennen und darüber hinaus bürgerorientiert sein für das neuerwachsene Beteiligungsbegehren (S.150-155).

 

Perspektivisch bedeutet das:

(1)        Der Bürgerstatus muss gestärkt werden (mehr Information, Mitentscheidung und Mitwirkung). Er muss zugänglich sein für alle Bevölkerungsgruppen, die bislang ausgeschlossen sind. Der Bürgerstatus von Kindern und Jugendlichen bedarf der Aufwertung durch verbindliche Formen der Beteiligung.

(2)        Demokratie, Engagement stärken. Zum Beispiel in den Bildungseinrichtungen durch Kita-Verfassungen, Stärkung der Vertretungen von Schülern, Auszubildenden und Eltern. Demokratische Gremien in Jugendeinrichtungen. Das Finden angemessener Beteiligungsformen wie Kinder- und Jugendkonferenzen, -parlamente oder offener, zeitlich begrenzter Formen. Die Perspektive der Nutzer (der Kinder, Jugendlichen, Schüler und deren Eltern) ist wichtig.

(3)        Bessere Vernetzung der unterschiedlichen Milieus. Zum Beispiel Offene Ganztagsschule, deren Angebote durch die Schüler selbst gestaltet werden.

(4)        Bürgerschaftliches Engagement muss in der Kommune unterstützt werden durch die Politik im Rahmen der Entwicklung von Bildungs- und Beteiligungslandschaft.

(5)        Es braucht immer wieder Initiativen, Proteste, Mobilisierungen und Netzwerke, die „das Recht auf die Stadt“ einfordern (beste-stadt.net als Niebüller-Mitmach-Form erhebt zum Beispiel diesen Anspruch (vgl. S. 157f)

 

Ziel wäre die Förderung der demokratischen Beteiligung auf möglichst vielen Ebenen.

Roth sagt dazu: „Es geht also nicht um die oft beschworene Alternative repräsentativ oder direktdemokratisch oder gar um die Abschaffung repräsentativer Formen. Gefordert ist vielmehr eine umfassende demokratische Erneuerung des öffentlichen Sektors, wie es beispielsweise Kita-Verfassungen oder Klassenräte als Elemente einer demokratischen Schulkultur vorsehen, und eine nachhaltige Beteiligung bei wichtigen kommunalen Weichenstellungen, die sich in der Regel nicht in ein Ja/Nein-Schema oder in parteipolitische Schnittmuster zwingen lassen. Dies kann sogar zu einer Belebung kommunaler Mandate führen, wenn sich die Ratsmitglieder als Moderatoren und Impulsgeber von Beteiligungsprozessen verstehen – und mit solchen Verfahren keine Angst vor der Aushöhlung ihres Mandats verbinden. Die Dimension demokratischer Beteiligung ist schon deshalb so wichtig, weil sie gegenwärtig das stärkste Motiv bürgerschaftlichen Engagements ist (S. 174f).

 

Roth fordert: Kommunen sollten die erweiterten demokratischen Ansprüche ihrer Bürgerschaft nutzen, um größere Handlungs- und Gestaltungsspielräume gegen Land, Bund und Europäische Union zu beanspruchen. Landespolitik soll Kommunen und Verwaltungen vor Ort stark machen (S.175)

 

Kinder und Jugendliche können auch an ihren Lernorten und in der Kommune an Beratungen zu Haushalt beteiligt werden und ein eigenes Budget verantworten. Viele Beispiele solcher Bürgerhaushalte führt Roth auf. Das Vorbild der brasilianischen Großstadt Porto Alegre „wird als die demokratische Innovation unserer Tage angesehen“ (S. 179).

Leitlinien der Politik, Selbstverpflichtungen der Erwachsenen zur partiellen Machtabgabe, Kontrakte (wie die in Schleswig-Holstein erfundenen Kita-Verfassungen, siehe Kinderstube der Demokratie) schaffen einen nachhaltigen strukturellen Rahmen.

Transparenz und Information können im Sinne von „electronic democracy“ auf das Internet erweitert werden. Jugendliche einer Kommune fordern: wir brauchen eine facebook-Seite zum Austausch der Informationen.

Es gibt keinen Mangel an Verfahren, Methoden und Formen der Beteiligung. Doch die Erfahrung zeigt, sie benötigen Moderatoren, Mentoren, Paten, um in bisher beteiligungsarmen Feldern Partizipation zu ermöglichen und Barrieren abzubauen (S. 220f).

 

Warum das Ganze? Warum diese Mühen? Die anfangs gestellten Fragen aus der Politik sind ja noch nicht gelöst und immer mehr Bürger, Kinder und Jugendliche engagieren sich oder wollen es gerne. Bis zu zwei Dritteln der Bürger wollen etwas tun.

Argumente für mehr Partizipation sind für jeden Einzelnen:

Soziale Kompetenz

informelles Lernen

Selbstwirksamkeit

Anerkennung

soziale Vernetzung

und vieles mehr

für Städte und Gemeinden bedeutet dies:

Innovations- und Zukunftsfähigkeit

Effektivität

Steigerung des Sozialkapitals

Der Konkurrenzfähigkeit

Legitimation und Akzeptanz gemeinsam getroffener Entscheidungen durch partizipative Verfahren (vgl. S. 289f)

Roland Roth verspricht: „Die ‚Weisheit der Vielen‘, die heute vor allem in Protesten, Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen zum Ausdruck kommt, ist eine der wenigen zukunftsfähigen Ressourcen, die sich durch ihren Gebrauch vermehrt“ (S. 300).

 

Aber er gibt auch zu bedenken: „Gruppen, die auf Bürgermacht setzten, sollten sich jedenfalls auf einen langen und konfliktreichen Weg einstellen. Zivilgesellschaftliche Akteure, die sich selbst auf die Produktion von ‚sozialem Kitt‘ und auf die unkritische Zuarbeit zu staatlicher Politik und den gesellschaftlichen Verhältnissen beschränken, leisten keinen demokratiepolitischen Beitrag.    Überhaupt dürften halbherzige Beteiligungsinitiativen ohne entsprechende Unterstützung zur Negativwerbung taugen und genutzt werden“ (S. 304-306)

 

Carsten Roeder, bundesweit anerkannter Beteiligungsexperte und Moderatorenausbilder aus Itzehoe, ermutigt: Was kann in Zeiten großer Veränderungen gelingen? Seine Antworten dazu siehe Foto:

Foto: Andreas Schönefeld

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