In der Kindheit wird verhandelt, ob wir widerstehen können. Herbert Renz-Polster: Erziehung prägt Gesinnung
Der Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster fragt in seinem aktuellsten Buch wie politische Haltungen in die Köpfe von Kindern kommen. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können??
Im Folgenden zitiere ich aus seinem Buch:
In der Kindheit […] bilden wir das soziale Vermögen aus, mit dem wir uns in die Gesellschaft einbringen – und mit dem wir Krisenzeiten begegnen. In der Kindheit wird verhandelt, mit welchem Grundgefühl wir uns dem Leben stellen – ob das Gefühl von Schutz dominiert oder von Verletzlichkeit. In der Kindheit wird verhandelt, ob wir widerstehen können. (S. 119)
Kinderbilder […]
Wer seine Mitmenschen als grundsätzlich „gutwillig“ empfindet – wird auch deren Kinder als vertrauenswürdig betrachten. Wer dagegen die Menschen als selbstsüchtig und böse ansieht, wird erst recht den Kindern Mängel und Defizite unterstellen. Und natürlich entscheidet diese innere Grundeinstellung auch darüber, wie wir im Alltag ganz konkret mit den Kindern umgehen. Darüber, in welcher „Beziehungssprache“ wir mit ihnen sprechen. Ob diese Sprache eher Verbundenheit und Gemeinsamkeit betont oder aber Kontrolle und Distanz. Ob uns eher wichtig ist, dass unser Kind Gehorsam entwickelt oder Vertrauen. Ob es in der Erziehung des Kindes um seine Einhegung und Besserung – oder aber um seine Begleitung, ja, sogar Ermächtigung geht. (S. 85f)
In der idealtypischen „fürsorglich-mitfühlenden“ Familie […] wird das Kind in seiner jeweiligen Eigenart wohlwollend begleitet, man begegnet seinen Bedürfnissen mit Empathie und Verständnis. Unterschiedliche Interessen in der Familie werden ausgeglichen. Das Kind kann in einem geschützten Rahmen die Welt selbst entdecken und erlebt sich dabei als bedeutsam und sozial resonant. Es lernt, sich in andere Menschen einzufühlen, und verinnerlicht dadurch unterschiedliche Perspektiven. Das Kind kann sich hörbar machen und in Entscheidungen einbringen. Indem das Kind erfährt, dass seine Bedürfnisse und eigenen Impulse zählen, wird es selbstbewusst und sowohl von der Meinung anderer Menschen als auch von der Motivation durch äußere Anreize unabhängig.
Kurz: In der „fürsorglichen“ Familie erfährt das Kind beim Aufwachsen, dass es aus sich heraus wertvoll und in einem tiefen Sinne unverletzlich ist. Es lernt, einem inneren Kompass zu folgen. (S. 93)
Schon als Baby wertet das Kind […] seine Beziehungserfahrungen zu einem ersten Arbeitsmodell aus: Wie gehen die Menschen mit mir um? Wird mein Weinen gehört? Kann ich also etwas tun, um mich aus Not zu befreien? Ist die Welt verlässlich? Oder ist sie unvorhersehbar und damit bedrohlich und unsicher? Und: Welche Rolle spiele ich in dieser Welt? Kann ich Einfluss nehmen? Oder bin ich der Welt und ihren Menschen gegenüber ausgeliefert?
Tatsächlich steht in diesem frühen Bindungsnetz ein Begriff ganz zentral, und zwar die Anerkennung. Es wird wohl kein Zufall sein, dass „Erkennen“ in manchen Sprachen, wie etwa dem Hebräischen, synonym steht für „Lieben“. Wer gesehen, erkannt und anerkannt wird, fühlt sich geliebt. Und es dürfte auch kein Zufall sein, dass die Anerkennung auch später in unserem Erwachsenenleben so wichtig ist, dass selbst die politische Debatte immer wieder bei diesem Begriff landet.
Beziehungssprachen sind Weltsprachen
Tatsächlich könnte man die zentralen Themen der Kindheit mit den immer gleichen Fragen zusammenfassen (sie werden bis zum Lebensende Thema bleiben): Bin ich sicher? Bin ich wirksam? Gehöre ich dazu? Bin ich anerkannt? (S. 113)
Mir geht es […] darum zu zeigen, dass bestimmte Sozialisationserfahrungen eine Empfänglichkeit beziehungsweise Verletzlichkeit gegenüber bestimmten politischen Haltungen begründen. Ein innerlich Verunsicherter reagiert anders auf äußere Bedrohungen als ein Unverletzter. Ein innerlich gekränkter Mensch geht anders mit äußeren Veränderungen um als ein innerlich gestärkter Mensch. Ein Kind, das sich in seiner Kindheit als unverwundbar erfahren hat, tritt der Zukunft anders gegenüber als ein immer wieder erschüttertes Kind. Es muss schon vieles zusammenkommen, damit ein Kind, das selbstbewusst und einfühlsam aus seiner Kindheit tritt, später sein Erwachsenenleben damit verbringt, sich anderen zu unterwerfen oder andere zu unterwerfen. Kurz, ich beschreibe Wege der Verführbarkeit. (S. 158)
Alle Zitate aus: Herbert Renz-Polster: Erziehung prägt Gesinnung. Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte – und wie wir ihn aufhalten können, München 2019.
Hier die Auszüge als PDF: In der Kindheit wird verhandelt Herbert Renz-Polster Erziehung prägt Gesinnung
Siehe auch meinen Artikel. Es bracht dazu die Freiheit. Der Stoff des Lebens. In diesem Artikel zitiere ich einen Lieblingstext von mir. DANKE auch dafür, Herr Renz-Polster, Andreas Schönefeld
Siehe auch meinen zweiten Beitrag zum Buch: http://andreas-schoenefeld.de/uns-fehlt-der-mut-unsere-kinder-sind-fuer-den-ausbruch-bereit/
Hier ein neuer Blogbeitrag von Herbert Renz-Polster vom 29.8.2019 über Krippen und Kitas, Qualität, Personalnot – ein gute Überblick: https://www.kinder-verstehen.de/aktuelles/so-eine-also-bist-du/