Didier Eribon. Eine Arbeit am Selbst

Nov 29 2016

„Der folgende Satz aus Sartres Saint Genet war entscheident für mich: ‚Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.‚ Er wurde zu einem Prinzip meines Lebens. Zur Maxime einer Askese, einer Arbeit am Selbst.“

So der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch Rückkehr nach Reims (Suhrkamp 2016, S. 219). Hier weitere Auszüge:

 

Didier Eribon, 28.11.16 in Berlin im taz-café, Foto: Andreas Schönefeld

Didier Eribon, 28.11.16 in Berlin im taz-café, Foto: Andreas Schönefeld

Die Funktion eines Bildungssystems: … kann ich nicht anders, als im Schulsystem, wie es vor unser aller Auge funktioniert, eine Höllenmaschine zu sehen, die, wenn auch vielleicht nicht ausdrücklich mit diesem Ziel programmiert, faktisch dafür sorgt, dass Kinder aus armen Schichten abgewertet werden, dass ungleiche Berufschancen und beschränkte soziale Zugangsmöglichkeiten fortbestehen, dass eine bestimmte Form der Klassenherrschaft intakt bleibt und weiterhin als legitim gilt. Ein Krieg ist im Gange gegen die Beherrschten, und die Schule ist einer ihrer Schauplätze. Die Lehrer tun gewiss ihr Bestes. Aber die Macht der sozialen Ordnung, die ihre Wirkung auf verborgene und zugleich offensichtliche Weise entfaltet und die sich gegen alles und jeden durchzusetzen vermag, haben sie nichts, oder nur sehr wenig, entgegenzusetzen. (S.113)

Wir stehen damit vor der Frage, wer das Recht hat, das Wort zu ergreifen, und wer auf welche Weise an welchen politischen Entscheidungsprozessen teilnimmt – und zwar nicht nur am Erarbeiten von Lösungen, sondern bereits an der kollektiven Diskussion darüber, welche Themen überhaupt legitim und wichtig sind und daher in Angriff genommen werden sollten. Wenn die Linke sich als unfähig erweist, einen Resonanzraum zu organisieren, wo solche Fragen diskutiert und wo Sehnsüchte und Energien investiert werden können, dann ziehen Rechte und Rechtsradikale diese Sehnsüchte und Energien auf sich. Das ist also die Aufgabe, vor der kritische Intellektuelle und soziale Bewegungen stehen: Es gilt, einen theoretischen Rahmen und eine politische Sichtweise auf die Realität zu konstruieren, die es erlauben, jene negativen Leidenschaften, die in der Gesellschaft insgesamt und insbesondere in den populären Klassen zirkulieren, zwar nicht auszumerzen – denn das wäre unmöglich -, aber doch weitgehend zu neutralisieren; Theorie und Sichtweisen, die neue Perspektiven erschließen und der Linken einen Weg in die Zukunft weisen, in der sie ihren Namen wieder verdient. (S. 146f)

Der Zweck gesellschaftlicher Theorien besteht doch gerade darin, von den Handlungs- und Selbsteinschätzungslogiken der Akteure zu abstrahieren, um ihnen kollektive und individuelle Alternativen des Handelns und Wahrnehmens aufzuzeigen, damit sie ihre Rolle in der Welt nicht nur überdenken, sondern vielleicht sogar aktiv umgestalten. Um eine neue Weltsicht zu eröffnen und neue politische Perspektiven anzubieten, muss man als Erstes die internalisierten Wahrnehmungs- und Bedeutungsmuster sowie die soziale Trägheit, die aus ihnen folgt, aufbrechen. (S. 45f)

Wenn das, was wir sind, sich an der Schnittstelle mehrerer kollektiver Bestimmtheiten und also mehrerer ‚Identitäten‘ und Subjektivierungsweisen abspielt, warum sollten wir dann eher die eine als die andere in den Brennpunkt des politischen Interesses stellen? […] Und wenn es Diskurse und Theorien sind, die uns als politische Subjekte konstituieren, liegt es dann nicht an uns, solche zu entwickeln, die es uns gestatten, keinen Aspekt zu vernachlässigen, keinen Bereich und kein Register der Unterdrückung aus dem Feld der Wahrnehmung und Handlung auszuschließen, keine Zuschreibung von Minderwertigkeit und keine von Beleidigungen hervorgerufene Form von Scham …? Theorien, die es uns außerdem erlauben, alle Bewegung aufzunehmen, die neue, unbekannte, überraschende Probleme und Diskurse in die politische Diskussion zu tragen versuchen? (S. 235)

 

 

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