Folkert Ketelsen schlug seine Söhne jeden Tag
„Folkert Ketelsen schlug seine Söhne jeden Tag, er brauchte dafür keinen Anlass. Schlug sie aus dem Weg oder die Treppe runter, prügelte sie durch das Haus und durch den Stall, und wenn kein Sohn im Weg stand, den er prügeln konnte, schlug er auf das Vieh ein. Die Brinkebüller hörten jeden Tag die Tiere brüllen, und dann wussten sie, dass Folkert Ketelsen im Stall war. Solange seine Tiere brüllten, waren nicht die Kinder dran und nicht die Frau.
Heiko war der Kleinste, jünger als die beiden Brüder, und der Einzige, der niemals weinte. Ihn konnte man solange schlagen, wie man wollte, er brüllte nie. Er ließ die anderen Kinder, wenn sie Turnen hatten in der Schule, seine blauen Flecken und die Striemen sehen, er zeigte sie wie Tapferkeitsmedallien: Hier, mit de Bullenstock. Nich jault. Hier, mit de Pietsch. Nich jault. Hier, mit de Lederreem. Nich jault. Hier, mit de Fuust. Nich jault. Lehrer Steensen hatte manchmal Arnikatinktur geholt, dann musste Jaulnich Ketelsen das Hemd ausziehen, und seine Blutergüsse oder Striemen wurden eingerieben. Heiko stand dann wie ein Krieger vor dem Lehrer, grinsend.
Kein Mensch im Dorf war je auf die Idee gekommen, dass man ihm hätte helfen sollen gegen diesen Vater. Man war sich einig über Folkert Ketelsen, er taugte nichts, man schimpfte über dat Stück Mist. Hatte Mitleid mit den Kindern, steckte ihnen manchmal Schokolade zu, ein Kuchenstück, gab ihnen auf dem Kinderfest mal eine Brause aus. Und ließ sie nach dem Fest nach Hause gehen zu Peitsche, Bullenstock und Lederriemen. Man mischte sich nicht ein, weil Folkert Ketelsen ein Brinkebüller war, Dörpsminsch mit einem alten Hof, immer hier gewesen, Vater, Großvater und Urgroßvater schon. Ingwer fragte sich, was man als Brinkebüller wohl verbrechen musste, bevor man ausgeschlossen wurde. Nicht mehr gegrüßt im Dorf, nicht eingeladen zu den Festen, nicht mehr bedient in Dora Koopmanns Laden. Ihm fiel nichts ein.“
Hansen, Dörte: Mittagsstunde, München 2018, S. 96f