Im Bann der sinnlichen Natur
Seit vier Wochen mache ich jetzt eine Kita-Waldgruppe. Es ist vorerst ein Projekt, eine intelligente Corona-Schutzmaßnahme bis zur Sommerschließzeit der Kita. Ich hoffe wir können eine feste Waldgruppe langfristig einrichten. Ich lausche dem Wind nach, sinne über das Verbindende und spüre das Glück der Kinder, der Eltern, mein eigenes. Ich versuche zu fassen, was hier passiert. Dazu zitiere ich David Abram aus seinem Buch „Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt“, Klein Jasedow 2012:
Die menschliche Sprache entwickelte sich in einem ganz und gar animistischen Kontext; über viele Jahrtausende diente sie notwendigerweise nicht nur zur zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern auch dazu, die ausdrucksbegabten Kräfte der umgebenden Landschaft miteinander zu versöhnen, sie zu lobpreisen und zu besänftigen. Die menschliche Sprache entstand also nicht nur als Werkzeug der Abstimmung zwischen einzelnen Personen, sondern auch zwischen uns und der belebten Landschaft. (S. 269)
In der mündlichen geprägten, animistischen Welt des vorchristlichen, bäuerlichen Europas war alles – Tiere, Wälder, Flüsse und Höhlen – zu sprachlichen Ausdruck begabt, wobei das wichtigste und grundlegende Medium dieses kollektiven Diskurses die Luft war. In schriftlosen Kulturen waren menschliche Äußerungen, ob in Gesängen, Erzählungen oder spontan geäußerten Lauten verkörpert, nicht vom Ausatmen zu trennen. Die unsichtbare Atmosphäre galt somit als Mittlerin aller Kommunikation, als eine Zone der Überlappung, Vermengung und Verwandlung subtiler Einflüsse. (S. 260)
Für die Navajo besitzt die Luft
– insbesondere kraft ihrer Fähigkeit, Bewusstsein, Denken und Sprache hervorzurufen – somit jene Eigenschaften, die in der abendländisch-alphabetischen Zivilisation traditionell einen individuellen „Geist“ oder einer inwendigen „Psyche“ zugeschrieben werden. Indem die Navjo-Ältesten diese Kräfte jedoch als Attribute der Luft ansehen und betonen, „dass der Wind in uns selbst“ nur ein Teil des umfassenden Windes ist – des unsichtbaren Mediums, in das wir eingetaucht sind -, bedeuten sie uns, dass das, was wir als „Mind“ bezeichnen, nicht unser, nicht Eigentum der Menschen ist. Als Wind betrachtet, liegen Geist und Bewusstsein vielmehr in Besitz der uns umgebenden Welt, an der die Menschen – wie alle anderen Wesen auch – teilhaben. (S. 243f)
Ob wohl all unser Handeln und Denken davon abhängt, dass die Luft uns nährt, erkennen wir dieses Medium, in das wir ganz und gar eingetaucht sind, nicht als etwas, das Geheimnisse birgt, bewusst Einfluss auf uns ausübt oder tiefere Bedeutung für uns haben könnte. Entheiligt und jeder spirituellen Bedeutung entkleidet, ist die Luft heute kaum etwas mehr als eine nur allzugerne vergessene Müllhalde für eine Unmenge von Abgasen und industriellem Dreck. (S. 264)
Nur wenn es uns gelingt, diese Wechselbeziehungen zu erneuern – und unsere neuerworbene Fähigkeit zur schriftlichen Abstraktion in jene älteren, mündlichen Erfahrungsformen zu verwurzeln -, wird der abstrakte Intellekt seinen wahren Wert finden. (S. 276)
Ein wahrhaft ökologischer Ansatz versucht nicht, eine mental vorgestellte Zukunft umzusetzen, sondern ringt darum, immer tiefer in die sinnliche Gegenwart einzutauchen. (S. 279)