Eine europäische Frau – Gunilla Palmstierna-Weiss
Am 8. November 1016 wurde er in Nowawes/Babelsberg bei Potsdam (in der heutigen Rudolf-Breidscheid-Straße 232) geboren. Dann lebt die Familie in Bremen (1918-1929) und ab 1929 in Berlin. Peter geht auf das Heinrich-von-Kleist-Gymnasium in Schmargendorf. Seine Eltern fliehen vor den Nationalsozialisten (der Vater war Jude, bis er 1920 zum Christentum konvertierte) über London 1935-36 und Warnsdorf in Böhmen 1939 schließlich nach Schweden. Peter bekam 1936 die teschechoslowakische Staatsbürgerschaft, studiert ab Herbst 37 in der Kunstakademie Prag und folgt über die Schweiz seinen Eltern nach Schweden im Februar 1939. Mit 23 ist er dort Flüchtling, Exilant, sieben Jahre ohne Pass, staatenlos.
Erst zu seinem 30. Geburtstag am 8.11.1946 erhält der einen schwedischen Pass und alle Bürgerrechte. Peter Weiss blieb bis zu seinem Tod am 10. Mai 1982 in Schweden.
Dort lernt er 1952 seine spätere Frau Gunilla Palmstierna-Weiss kennen. Es wird eine 30jährige künstlerische Zusammenarbeit – ein Dialog.
Gunilla ist Bildhauerin, Keramikerin, Illustratorin, Kostüm- und Bühnenbildnerin. Mit der Uraufführung seines Theaterstückes am 29.4.1964 im Berliner Schillertheater werden sie plötzlich weltberühmt, Stars. Der Titel des Stückes: Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade. Das deutsche Magazin Der Spiegel schreibt: Auf der Bühne wurde geliebt, gebetet, gesegnet, gesungen, getanzt, gebadet, geduscht, gestritten, gefoltert, gepeitscht, gemordet, geköpft. Gunilla machte die Kostüme, Bühnenbild und Beleuchtung.
Plötzlich hatte Peter Weiss, der Maler, der Schriftsteller, der auf deutsch und schwedisch schrieb, der Experimentalfilmer seine Sprache und ein Publikum gefunden. Es war eine Wende zur Aussenwelt. Er wurde zu einem der wichtigsten politischen Autoren der 60er bis 80er Jahre. Viele politische Theaterstücke folgten. „Die Ermittlung“ über die Auschwitzprozesse in Frankfurt am Main wurden 1965 an 14 Bühnen in beiden deutschen Staaten gleichzeitig aufgeführt. Es folgt unter anderem ein Stück über den Vietnam-Krieg. Die Szenografin Gunilla ist mit Peter auf Reisen in die USA, Mexiko, Kuba und Vietnam, in der deutschen Schriftstellervereinigung „Gruppe 47“, sie macht die Kostüme, Bühnenbild und Beleuchtung für für fast alle seine Stücke. Sie arbeitet über zwanzig Jahre (1966-1989) mit dem schwedischen Regisseur Ingmar Bergman zusammen und anderen bedeutenden Regisseuren in Stockholm, München und New York und anderen Ort auf der Welt.
1971 bis 1981 schreibt Peter Weiss sein Hauptwerk, die dreibändige „Ästhetik des Widerstands„. Peter Weiss‘ Romanhandlung beschreibt den Widerstand zwischen 1938 und 1945 gegen Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus. Es geht aber auch um die Kämpfe zu allen Zeiten der Welt. Es geht um das „Vernichtende“. Wie wird Sehen, Denken und Sprache erweitert und bis ans Äußerste getrieben, um „das Vernichtende“ wahrzunehmen, um weitest reichendes Bewusstsein zu erlangen, um es vorstellbar und benennbar zu machen? Und wie kann unter diesen Bedingungen, vernünftiges Handeln, Widerstand gegen „das Vernichtende“ erfolgen? Mit 65 Jahren stirbt er plötzlich an einem Herzinfakt, noch voller Tatendrang und kurz vor der Verleihung des bedeutenden Georg-Büchner-Preises der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.
Gunilla Palmstierna-Weiss, lebte noch 39 Jahren ohne ihren Mann und Dialogpartner. Peter Weiss wäre im November 2016 100 Jahre alt geworden. Gunillas Erinnerungen erschienen 2013 beim schwedischen Verlag Bonniers. „Minnets Spelplats“ (vielleicht zu übersetzen mit „Bühne der Erinnerung“) behandelt drei Generationen Frauengeschichte. Dem Berliner „Verbrecher Verlag“ verdanken wir nun die deutsche Fassung.
Nadja Weiss, gemeinsame Tochter von Gunilla und Peter, Schauspielerin und Regisseurin am schwedischen dramatischen Theater in Stockholm führte in einer Stockholmer Fabriketage führt am 100. Geburtstag „Die Ermittlung“ auf, ihren erste Annäherung an das Werk des Vaters.
Im Juni 1947 berichtet Weiss nach Schweden von einer Buchausstellung in Berlin: Und hier finden sich die holländischen, französischen, italienischen, dänischen und norwegischen Widerstandsgruppen. Sie kämpfen den gleichen Kampf wie die deutschen. Sie haben die gleichen Gedanken gedacht, sie haben die gleichen Worte geschrieben. Sie haben für die gleiche Freiheit gekämpft. Sie rufen nach Freiheit. Rufen noch heute nach Freiheit. Am gedrücktesten klingen die deutschen Stimmen. Sie fragen: Wohin sind wir gelangt? Wo ist die Freiheit? Sie sehen mit Angst, dass Diktatur, parteipolitische Wichtigtuerei, Korruption, Angeberei, Tyrannei und Deportation wie früher herrschen. Sie sehen mit Angst, dass das enttäuschte Volk, das am Ende seiner Kraftressourcen angelangt ist, sich wieder ans Narkotikum Nationalismus hängt. Diese Männer und Frauen gehören zu den wahren Demokraten der Welt, und sie stehen isoliert da. Sie benötigen Unterstützung von all denen, die einstehen für die Sache der Menschenrechte und der Freiheit (Peter Weiss: Die Besiegten, deutsche Übersetzung erst nach seinem Tod, 1985, S. 129f.). In diesen Reportagen für die Stockholms Tidningen heißt es an anderer Stelle: Erst in diesem kranken, schmutzigen Dasein begreift man, was es heißt: zu leben. Nichts muss höher eingeschätzt werden als das einzige Leben eines jeden Menschen (Weiss 1985, S. 146).
Im Prosaband „De Besegrade“ (Die Besiegten) 1948 in Stockholm auf Schwedisch erschienen verarbeitet Peter Weiss bestimmt auch seine persönliche Lage: Diese Stadt vermachte mir die Angst. … Aber mein Leben war Flucht. … Aber mein Leben war das Leben des Verfolgten, … Aber dann kam das Bewußtsein. Nun verstand ich: ich verstand den Gefangenen, an seiner Stelle könnte ich gewesen sein, ich verstand den Gefolterten, an seiner Stelle könnte ich gewesen sein, aber ich verstand auch den jungen, geblendeten Soldaten, auch an seiner Stelle könnte ich gewesen sein. Ich verstand den anderen Soldaten, der sich gegen den Angreifer verteidigte, der zum Gegenangriff überging, um zu siegen. Ich war auf beiden Seiten, überall wo es Unterdrückte gab, überall wo jemand verzweifelt um seine Freiheit kämpfte. Ich wurde getötet und ich tötete (Weiss 1985, S. 34-36).
1948 ist auch das Jahr, in dem am 10. Dezember die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet wurde durch die UN Generalversammlung. Peter Weiss wusste um die Verletzung dieser Rechte im Zweiten Weltkrieg und erlebte sie als Staatenloser in der schwedischen Emigration.
Gunilla Palmstierna hat wie Peter einen europäischen Hintergrund. Viel stärker als er erlebte sie Krieg und Flucht. Sie wird am 28.März 1928 in Lausanne in der Schweiz geboren. wächst in Österreich, Frankreich und Holland auf. Als zwölfjährig überlebte sie die deutschen Bombenangriffe auf Rotterdam am 10.Mai 1940. Am 14. Mai erfolgt der größte Angriff, die Stadt kapitulierte und lag in Ruinen. Rotterdam wurde okkupiert und eingeschlossen. Flucht war nicht möglich. Gunilla hatte ebenfalls einen jüdischen Hintergrund. Ihr Urgroßvater mütterlicherseits, Peder Herzog, stammte aus einer jüdischen Buchdruckerfamilie, wurde 1838 in Deutschland geboren, Gesellenjahre durch Europa, Arbeiten in Venedig, England, Stockholm, Sankt Petersburg und wieder Stockholm mit Gründung eines Verlagshauses. In Rotterdam wurde Gunillas Mutter, Vera, als jüdisch gemeldet. Die Deportationen der holländischen jüdischen Bevölkerung begann 1942. Durch Intervention der Großmutter von Gunilla, Hilda, mütterlicherseits, erhielt Vera 1942 ihre schwedische Staatsbürgerschaft zurück. Die Familie stand nun unter Schutz des schwedischen Konsulates in Berlin. Dies rette sie vor der Deportation.
René de Monchy, der zweite Mann Veras, Gunillas Stiefvater, Arzt, Neurologe und Psychoannalytiker, war im Widerstand gegen das Sterilisationsprogramm der Nationalsozialisten und die Deportation der jüdischen Ärzte in Holland. 1944 kam er ins Gefängnis, ein Durchgangslager zu den deutschen Konzentrationslagern im Osten Europas. Die 16jährige Gunilla mit ihrem schwedischen Namen und ihre Mutter mit dem schwedischen Pass versuchten in einer gefährlichen Aktion das Gespräch mit einem SS-Offizier, den Vera aus Wien kannte, um René freizubekommen. Vielleicht kam er durch diese Aktion frei. Anfang 1945 bekommt René einen riskanten Auftrag. Er soll Karten und Zeichnungen über die deutschen Artilleriepositionen längst der holländischen und belgischen Küste nach Berlin schmuggeln und dann weiter nach Stockholm reisen. Als Schutzschild fährt seine schwedische Familie mit.
Gunilla ist 17 Jahre alt, mit ihrem Bruder Hans, sieht sie bei der Zugankunft in Berlin die totale Zerbombung Berlins: „Die war ein einziger Trümmerhaufen. Dieselbe Zerstörung hatte ich in Rotterdam erlebt, aber hier war sie fast noch schlimmer, gewaltsamer. Die Menschen bewegten sich wie Zombies (Palmstierna-Weiss 2022, Eine europäische Frau, S. 108). Die Familie wurde in den letzten Kriegswochen aus Berlin gerettet, sie flogen in einem orangfarbenen Diplomatenflugzeug nach Schweden, mit an Bord die letzten drei Bediensteten der schwedischen Botschaft.
Im Sommer 1952 treffen sich Gunilla (24 Jahre) und Peter (35 Jahre), beide verheiratet und mit je einem Kind, in Kivik in Südschweden. Es war wohl auch der gemeinsame europäische Flucht-Hintergrund, der eine 30jährige Partnerschaft und einen 30jährigen Dialog begründete.
Gunilla analysiert das in ihrer Rede zum Büchner-Preis, den sie 1982 für ihn entgegennimmt, nachdem er vorher plötzlich verstarb: Ich habe mehr oder weniger zufällig eine ähnliche Biographie wie Peter, und vielleicht sehe ich deswegen in seiner Arbeit auch andere Strukturen und Bezüge als diejenigen, die sein Werk von außen betrachten. Ich möchte hier zwei Punkte betonen: 1) Emigration und Sprache 2), Das Aufeinandertreffen von zwei Kulturtraditionen. Dadurch, dass in seiner Person die deutsche, die zentraleuropäische Kultur und die skandinavische sich begegnen, aufeinandertreffen, sind in Peters Malerei, in seinen Filmen und in seinem literarischen Werk Gedanken enthalten – Bilder, Theorien, Synthesen – die nicht entstanden wären, wenn er nur in der einen oder anderen Tradition gelebt hätte. Aus den so oft mit Angst erfüllten Konflikt zwischen seiner deutschen, zentraleuropäischen Herkunft und den schwedischen Traditionen, aus diesem Konflikt fand er einen Weg, bei dem sich die beiden oft weit auseinanderliegenden Lebensanschauungen vermischten und Neues entstand. Wenn man stark genug ist, wenn man genügend selbstbewusst ist, in Bezug auf seine eigenen Arbeiten und wenn es einen oder ein paar Menschen gibt, die daran glauben, dass das, was man tut, wichtig und von Bedeutung ist – dann macht man eben weiter, und dann kann es sein, dass Emigration nicht immer nur von Übel ist. Natürlich ist das auch abhängig davon, in welchem Alter man gezwungen ist auszuwandern, warum und wie. Für einen jungen Menschen, der nirgends zuhause ist, mag es trotz allem auch Freiheit bedeuten, mit größeren Möglichkeiten für ein neues Ichbewusstsein.
Gunilla und Peter finden in Schweden eine Heimat, eine kleine Gruppe. Es geht um Kunst und Politik.
Mit dem Welterfolg zu Beginn der Studentenbewegungen kommen immer mehr Herausforderungen und Fragen nach politischen Stellungnahmen, Reisen und Begegnungen mit den politisch Aktiven dieser Zeit. Deutschland ist noch getrennt in West und Ost, BRD und DDR, Kapitalismus und Kommunismus. In beiden deutschen Staaten wird Peter Weiss gelesen, gefeiert und angefeindet. Peter Weiss sitzt zwischen den Stühlen. In der DDR konnte die „Ästhetik des Widerstands“ lange nicht erscheinen, „weil die Kulturfunktionäre das Buch als ’nicht übereinstimmend mit der in der DDR gültigen Geschichtsschreibung‘ verbieten„, so Peter Weiss im Mai 1978 in seinen Notizbüchern. Erst 1983, nach seinem Tod, erscheinen die drei Bände, komplett und ungekürzt, in einer schnell vergriffenen Auflage von 5.000 Exemplaren.
An seinem Geburtstag 1978 notiert Weiss mit nun 62 Jahre: „8. Nov. Der komplizierte, paradoxe Prozeß, in dem ich mit meiner Arbeit, seit Jahren im wachsendem Grad, verwickelt bin: in der BRD, wo ich eine stark gesellschaftskritische Position einnehme, können meine Bücher erscheinen, vielleicht weil ich als politisch Unbescholtener begann, und meine Stellungnahmen erst allmählich entwickelte u radikalisierte. Auf den Buchhandel hat sich dies natürlich ausgewirkt, manche Läden führen meine Titel nicht, oder nur in begrenztem Ausmaß, und auch die meisten Theaterleiter verschließen sich vor meinen Stücken, in Ländern der BRD, die unter reaktionärer polit. Führung stehn, wird dies offen ausgesprochen. In der DDR, wo ich bei aller Kritik immer noch nach einem Ausgleich suche, und das gesellschaftlich Positive gegen die beunruhigenden u empörenden Erscheinungen abwäge, kann die ‚Ästhetik‘ noch nicht erscheinen. Gleichzeitig findet meine übrige Produktion (natürl. mit Ausnahme des ‚Trotzki‚) dort viel Interesse,….“
Am 16. November 1972 wird Nadja, die gemeinsame Tochter von Gunilla und Peter geboren. Seit gut einem Jahr arbeitet Peter an der „Ästhetik des Widerstands“, das sein Hauptwerk werden sollte. Erst war nur ein Band geplant. Mit Nadja, seiner großen Liebe, wächst diese Arbeit. Nadja verliert ihren Vater mit 9einhalb Jahren. Ihrer Mutter arbeitet viel mit Ingmar Bergman zusammen. Er wird für Nadja zum väterlichen Freund. Nadja ist stets mit hinter der Bühne. Sie wird Schauspielerin und Regisseurin. Mit 50 verliert sie ihre Mutter.
Gunilla bekommt von der Universität Stockholm eine Ehrenprofessur verliehen für ihre Verdienste als Sceneografin. Gunilla wird die Kostüm- und Bühnenbildnerin Schwedens. Ihre Erinnerungen über ein ganzes Jahrhundert „minnets spelplats„ gestaltete ihr Sohn, Mikael Sylwan (Adoptivsohn von Peter), selbst Maler, Zeichner, Sceneograf und Foto-Künstler.
Der Suhrkamp Verlag gabt anlässlich des 100. Geburtstages von Peter Weiss eine neue, kritisch überarbeitete Fassung der „Ästhetik des Widerstands“ heraus, leider nicht in drei Bänden, wie von Peter immer gewollt, sondern nur in einem Band. Dafür sind aber Kürzungen und Umformulierungen im dritten Band, die der Verlag vorgenommen hatte, um „Schedismen“ zu vermeiden, die Peter allerdings durch Krankheit bedingt nicht mehr lesen und rückgängig machen konnte, weil der Band schon gedruckt wurde. Peter Weiss hatte diese Fassung nie akzeptiert. Die schwedische und DDR Herausgabe folgten dann allerdings seinem Original.
Zur Aktualität des Werkes von Peter Weiss sei noch folgendes ausgeführt.
Mit der Figur der „Mutter“ beginnt Peter Weiss den dritten Band der „Ästhetik des Widerstands„. Das allgemeine Flucht- und Kriegsgeschehen, an dem sie mit dem Vater und Millionen anderer teilhat, wird von der Mutter auf ihre Art wahrgenommen, erlebt und verarbeitet. Sie treibt durch Halluzinationen, vor allem solche, die sich aus den vergangenen Erlebnissen schöpfen. Eins dieser Bilder geht von der Flucht aus, auf der ihr Schweigen begann: Immer noch in der ungenauen Hoffnung, dass es irgendwo Schutz geben müsse, unfähig zu ahnen, dass sie ihrer Vernichtung entgegen wanderten, mitgerissen von der übermenschlichen Kraft, nicht Naturkatastrophen ausgeliefert, nicht von Hunger und Not gezwungen, ihre Länder zu verlassen, nicht auf der Suche nach neuem Boden, der sich bebauen ließe, sondern hinweggefegt von einer jeder Vernunft widersprechenden Gewalt, alles aufgegeben, was einmal ihr Leben ausgemacht hatte, nicht zu Pilgern und Pionieren, sondern über Nacht zu den Niedrigsten geworden, jeglicher Ansprüche, jeglicher Würde beraubt, nur noch in einer aus Verladeplätzen, Transportlinien, Umschlagstellen und Auffanglagern bestehenden Welt existierend, fluteten sie ostwärts, durch die Provinzen, die Deutschland Neunzehnhundert Achtzehn an Polen verloren und nun wieder an sich gerissen hatte. Und noch gestaltloser wurden sie als Millionen, zusammen mit denen aus ihren Ortschaften vertriebenen polnischen Juden, durchquert von den Deportationen eingefangener Arbeitskräfte nach Deutschland und den Zügen der Deutschstämmigen aus dem Baltikum und Belorußland, die sich in den von Juden gesäuberten gebieten ansiedeln sollten (Ästhetik des Widerstands, Band III, S. 14).
Weiss gestaltet zu Beginn des dritten Bandes mit den Figuren der Mutter und des Vaters zwei extreme, entgegengesetzte Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster. Der Mutter ordnet er tiefere, körperlich erfahrene Erkenntnis und Tod zu, dem Vater Rationalismus und Überleben. Die Mutter erfährt und erleidet die Geschehnisse mit ihrem ganzen Körper. Das Vernichtende dringt in sie ein und wird zugelassen. Der Vater schafft Distanz und sichert das Überleben mittels seines rationalen Geschichtsmodells, der Verbindung der zeitlichen und örtlichen Koordinaten sowie mit Bezeichnungen und Benennungen. Die Figur der Mutter und des Vaters sind wie die Ich-Figur im Roman völlig frei erfunden, ohne Vorbild, im Gegensatz zu den Figuren wie Karin Boye, Max Hodann, Rosalinde von Ossietzky oder Lotte Bischoff. Bei denen, die die Namen historischer Personen tragen ist Weiss bemüht, „ihnen nichts anzudichten, was sie nicht hätten tun oder sagen könnten“ (Notizbücher, S. 927). Die Mutter und der Vater sind dialektisch aufgebaut als zwei Prinzipien, die nach einer Synthese streben. Gesucht wird eine um die Fähigkeit der tieferen sinnlichen Wahrnehmung erweiterte Rationalität, Kunst und Politik, eine Ästhetik des Widerstands.
Max Hodann stellt in der Anfangspassage des dritten Bandes die Frage, ob die Geschichte der Menschheit nicht eine Geschichte des Mordens sei „…, diese Zahlen, die uns mit ihren unerschöpflichen Mengen, so verwirrten, diese Zahlen von Menschen, die , durch alle Landschaften der Erde, ihrem Tod entgegenzogen, gehörten sie nicht, von Urzeiten an, zur Regel, waren uns die Zahlenmassen nicht eher gleichgültig als unbegreiflich, weil die Gewöhnung daran längst genetisch geworden war, …“ (ÄdW, III, 47).
Peter Weiss hält mit der Ästhetik des Widerstands dagegen und spricht den Leser direkt an: Dennoch war das Wesentlich nicht, dass da Mächte am Werk waren, Menschen in gewaltigen Mengen niederzumetzeln, sondern dass einige sich daran gemacht hatten, diesen Taten entgegenzuwirken, und das Denkwürdige daran war wiederum nicht, dass sie kaum vernehmbar, dass sie so unscheinbar waren, sondern dass es sie überhaupt gab, dass sie den Verfolgungen entgangen, dass sie nicht in die Fallen geraten waren, dass sie sich miteinander verständigten und geheime Wege zu einander fanden, um gemeinsam zu planen. Das Ausschlaggebende war nicht, dass in diesem Augenblick Hunderte in eine Grube stürzten, denn damit waren sie schon nutzlos geworden, sondern dass einige wenige eine Organisation besaßen, und kleine Zellen, die nun ausgebaut werden sollten. das Wichtige, das alles Überschattende war nicht das fortwährende Zerbersten und Zerbrechen, sondern die Anstrengung, mitten im Dröhnen, Geschrei und Röcheln auszuharren. Immer wieder mussten die Halden des Schutts beiseite geräumt, winzige Bewegungsräume geschaffen werden, und dies durfte, wenn die Lawinen zurückrollten, der Boden erzitterte, nie sinnlos erscheinen, denn dann wäre das Vernichtende schon in dich eingedrungen, hätte dich schon in die Knie gezwungen. Es war notwendig, sich zu sagen, dass die Lage nie so günstig gewesen sei wie jetzt, dass keine Verluste den Sieg über den Feind aufhalten könnten. Doch der Vernunft, als Leitfaden der Arbeit, widersprach vieles.“ (ÄdW, III, 48f.)
Die Frage nach dem Widerstand gegen „das Vernichtende“ ist die entscheidende Frage, die sich an jeden richtet. Weiss‘ Forderung nach der politischen und gleichzeitig kulturellen Befreiung des Menschen, nach der ganzen „Bildungsarbeit“, an die er dachte, richtet sich auch heute, weiterhin an uns. Peter Weiss 1981 in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold: Und deshalb immer wieder: Du musst lesen, Du musst dich bilden, Du musst dich auseinandersetzten mit den Dingen, die auf dich zukommen, Du musst Stellung ergreifen, Du darfst nicht sitzen und alles nur auf dich zukommen lassen, Du darfst dich vor allen Dingen nicht dem Gedanken hingeben, dass Mächtige über dir sind, die doch alles bestimmen.
Andreas Schönefeld, Assistent der großen Peter Weiss Ausstellung zum Leben und Werk 1990 und 1991 in Berlin und Stockholm, seit 1983 bekannt mit Gunilla Palmstierna-Weiss.